Eine unfassbare Nachricht aus dem Radio

Das Lied von R.E.M war vorbei und die Nachrichten begannen. Nach den üblichen Nachrichten über Politik und ähnlich wunderliche Dinge wechselte der Sprecher auf einmal in einen ernsten, sonoren Vortrag und sprach von einem amerikanischen Rockstar, der sich das Leben genommen habe. Es war der Sänger und von den Medien auserkorene Held des Grunge, Kurt Cobain. Seine Band Nirvana, die seit 1991 mit enormem Erfolg das internationale Musikgeschäft durcheinander gewirbelt hatte, war nun Vergangenheit. Man spürte Ungläubigkeit und Ratlosigkeit. Nun gab es eine neue, aktuelle Rockstartragödie um einen Sänger, der sich im Angesicht seines außer Kontrolle geratenen Lebens aus selbigen verabschiedete. Diesmal aber mit einer noch brutaleren Unabänderlichkeit, die alles was davor war, in den Schatten stellte. Cobain erschoss sich mit einer Schrotflinte.

20 Jahre “In Utero”

Beinahe zwei Jahrzehnte später, denkt man noch manchmal an diesen Sänger und Songwriter, der einer Dekade seinen Stempel aufgedrückt hat und musikalisch für die 90er Jahren eine exponierte Stellung einnehmen sollte. Nun, da mit In Utero vor zwei Jahrzehnten das letzte Nirvana-Album auf den Markt kam, der auf dieses verstörende Album so verstört reagierte, ist In Utero das vielleicht letzte Album, das Rock ‘n’ Roll atmet. Es ist rebellisch, es ist gegen das Establishment in Form einer rein geldorientierten Musikindustrie, es ist gegen den Mainstream, es ist gegen das Angepasstsein und das Mitmachen nur um des Erfolges Willen, es ist gefährlich. Man kann heute nur noch erahnen, was es damals bedeutet hat, ein solches Album auf den Markt zu bringen, einen Markt, der noch nicht das Internet kannte und immense Umsätze generierte. Auf diesen so wunderbar florierenden Markt schmiss Nirvana dieses dreckige, unfertige Album. Bis heute verstört es, irritiert. Aber war es nicht gerade das, was Cobain wollte?

“In Utero” ist wahrscheinlich das letzte Album, das wirklich Rock ‘n’ Roll atmet.

Dieser schmächtige Typ aus Seattle zog nicht aus, um ein gefeierter Rockstar zu werden. Er wollte nicht dazugehören, nur Ausdruck der Hoffnungslosigkeit einer amerikanischen Unterschicht sein, die den Oberen ans Bein pinkeln wollte mit ihrem dreckigen und ungepflegten Outfit, das keines war, aber zu einem weltweiten Modetrend mit dem Label “Grunge” gehypt wurde. Nein, das wollte er nicht. Und gerade deswegen hat er wohl, ohne es zu bemerken, die Büchse der Pandora geöffnet, auf der in großen Buchstaben „Ruhm“ stand. Das Vorgängeralbum Nevermind verkaufte sich millionenfach und die Band Nirvana wurde Protagonist dieser neuen Bewegung Grunge. Von dem unfassbaren Erfolg überfordert, verstrickte sich Cobain in das Rockbusiness und dessen dichten Netze. Dabei wollte er nur Songs schreiben, Songs mit guten Melodien wie vielleicht R.E.M. Vielleicht zählte der Sänger von R.E.M, Michael Stipe, nicht zuletzt deswegen zu seinen besten Freunden.

Eigensinn und Eigen-

ständigkeit

Was ist davon heute geblieben? Hört man heute Nirvana und ihr letztes Album, fragt man sich, was von dieser Roheit und der absichtlichen Verweigerung geblieben ist, ob die heutige Generation zwischen Facebook und Selbstdarstellung das überhaupt noch verstehen kann. Diese Frage kann nur die Zeit beantworten. Doch die Kreativität ist heute in den Hintergrund gerückt, und betrachtet man heutige populäre Bands, braucht man Zeit, eine ähnlich kreative Lust zu finden. Gerieren sich “Stars” doch eher wie Testimonials einer Werbekampagne, wie Darsteller, die ihr Lächeln verkaufen, um es auf einen Markt zu werfen, der es auf Facebook, Twitter oder Instagram nochmal und nochmal und nochmal zeigt, teilt oder twittert. Vor diesem Hintergrund strahlt In Utero wie ein hoher Leuchtturm, der an einer weiten Küste steht, einsam und verlassen, aber hell leuchtend. Und deswegen machen Nirvana mit Kurt Cobain und In Utero heute noch Sinn. Denn sie zeigen uns, was es immer weniger gibt: Eigensinn, Eigenständigkeit, Risikobereitschaft und Mut.

Nur noch Grunge -Couture?

Das Rolling Stone Magazine schrieb in seiner Oktoberausgabe zur Erinnerung an In Utero auf die Frage was mit Grunge eigentlich heute sei. Grunge wurde zuletzt noch einmal in einem Artikel über Mode als Grunge-Couture in einer zweitklassigen Modezeitschrift  zitiert.  Also, war das was mit Grunge? Antwort: Ja, es war was! Und dieses „Was“ hält uns die heutige Angepasstheit und Bequemlichkeit vor Augen, gerade und vor allem in zweitklassigen Modezeitschriften.

Bildquelle:
By Kelly-Flickr: Kurt Cobains suitcase, Wikimedia Commons
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6799138

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